Notwendigkeit einer Nationalen Diabetesstrategie in Deutschland

Positionen der Patientenvertretung Diabetiker Allianz (DA) zur Notwendigkeit einer Nationalen Diabetesstrategie in Deutschland

Positionenpapier (PDF)

7,5 Millionen Menschen sind in Deutschland an Diabetes erkrankt, die Dunkel­ziffer liegt bei ca. 2 Millionen. Etwa 10 Prozent der jährlichen Gesamtaus­gaben im deutschen Gesundheitssystem entfallen auf Diabetes und Folge­erkrankungen. Und obwohl seit Jahr­zehnten über eine Diabetesstrategie gesprochen wird, wurde sie nie auf den Weg gebracht. Zu Beginn der aktuellen Legislaturperiode hat es die Nationale Diabetes­strategie endlich in den Koalitionsvertrag geschafft.

Aktuell droht die Diabetesstrategie an einem Streit in der Koalition über die Zuckerreduktion bei Lebens­mitteln insbesondere für Kinder zu scheitern. Doch die Zucker­reduktion ist ein Muss in der Diabetesstrategie, denn die Zuckermenge ist der wichtigste Faktor bei der Bekämpfung von Übergewicht.

Ein Offener Brief der Diabetiker Allianz (DA) an Bundesgesundheits­minister Jens Spahn zur Notwendigkeit der Nationalen Diabetesstrategie ist bislang unbeantwortet. Die Diabetes-Patienten­vertretung sucht nun den Schulterschluss mit Selbsthilfe-Organisationen aus den mit Diabetes verbundenen Bereichen, wie Bluthochdruck, Herz-Kreislauf, Augen, Nieren und Adipositas, um sowohl die gesundheitspolitische Dring­lichkeit als auch die enorme wirtschaftliche Relevanz in das Bewusstsein der Verantwortlichen zu rücken. Denn insbesondere die Folge­erkrankungen (Augen-, Nieren-, Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie die neurologischen und peripher-vaskulären Erkrankungen) sind ein extremer Kostentreiber, sie schlagen mit 76 Prozent der Behandlungs­kosten zu Buche.

Die 10 Millionen Betroffenen und die epidemiologische Ausbreitung machen eine Nationale Diabetesstrategie unverzichtbar.

Patientenforderungen für eine erfolgreiche Diabetesstrategie:

1. Versorgung

Sicherung der qualifizierten, spezialisierten und wohnortnahen Versorgung der Patienten im ambulanten und stationären Bereich sowie in der Pflege.
Sicherstellung einer leitliniengerechten Versorgung für alle Patienten, die sich am Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse orientiert.
Sicherung der Kinder-Diabetologie und der internistischen Fachärztekompetenz zur Diabetesbehandlung in den Krankenhäusern. Diese fachärztliche Versorgung muss auch in unseren Pflege- und Altersheimen, also bis ins hohe Alter, gewähr­leistet sein.
Der Zugang zu digitalen Gesundheitsanwendungen und telemedizinischen Leistungen, insbesondere in ländlichen Bereichen, ist bei gleichzeitiger Datensouveränität der Patienten sicherzustellen.

   2. Disease Management Programme (DMP)

    Eine durchgängige Einschreibung der gesetzlich versicherten Diabetespatienten in das Disease Management Programm ist anzustreben – DMP muss zur Regelversorgung werden. Die Rolle des Patienten in den strukturierten Behandlungs­programmen muss gestärkt werden.
    Wir fordern mehr Transparenz für den in DMP eingeschriebenen Patienten, damit die allgemeinen Leistungs- und Auskunftsansprüche der Versicherten, den Patienten tatsächlich auch zur Verfügung stehen. Dazu gehört die Aufklärung der Patienten zu der Ausgestaltung der Programme und zu seinen Untersuchungs­ergebnissen.
    Die Rolle des Patienten muss auch dadurch gestärkt werden, dass Maß­nahmen zur Verbesserung des Selbstmanagements, insbesondere Patienten­schulungen sowie die Unterstützungsangebote der durch die Fachgesellschaften noch zu zertifizierten organisierten Selbsthilfe, zwingender Bestandteil jedes DMP werden.

 3.  Patientenvertretung

    Bei der Entscheidung über neue Hilfsmittel und Medikamente im Gemeinsamen Bundes­ausschuss (G-BA) muss der Patient mit im Entschei­dungs­gremium sitzen. In einem Gesundheits­system, welches den Patienten in den Mittelpunkt stellt, müssen die Vertreter der Patienten perspektivisch zumindest themenbezogen ein Stimmrecht besitzen. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Sicht und Erfahrung der Betroffenen im Behandlungsalltag auch genutzt werden – das gilt für Diabetes und andere chronische Erkrankungen gleichermaßen.
    Bei der Methodenbewertung müssen insbesondere die patientenrelevanten Endpunkte (z.B. Symptome, Komplikationen und Nebenwirkungen bei der Behandlung, die die Lebensqualität signifikant beeinflussen) durch die Mitwirkung der Patienten Beachtung finden. Hierfür ist es erforderlich, dass die verwendeten Patientenfragebögen gemäß AMNOG-Verfahren unter Mitwirkung der Patienten diabetesspezifisch qualifiziert werden.
    Mit einem themen­bezogenen Stimmrecht ist eine weitere Professionali­sierung der Patienten­vertretung verbunden. Hierfür müssen Ressourcen auf Seiten der ehren­amt­lichen Patienten­organisationen und auf Seiten der Selbstverwaltung geschaffen werden.
    Wir fordern umfängliche Bildungsangebote sowie die Einführung und Umsetzung der erforderlichen gesetzlichen Maßnahmen, damit Patienten zu Patienten­experten werden und das patientenorientierte Gesundheitswesen wirkungsvoll weiterentwickeln können.
    Für die mit dieser ehrenamtlichen Tätigkeit einher gehenden Zeit- und Kostenaufwände soll eine Entschädigung geleistet werden. In Analogie zu ehrenamtlichen Richtern und Schöffen, soll auch eine Freistellung durch den Arbeitgeber gewährleistet sein.

  4.  Prävention

    Gezielte Präventionsangebote werden dringend benötigt, um der Entstehung des Diabetes oder dem Fortschreiten der Erkrankung mit Folgeschäden entgegen­zuwirken, insbesondere für Menschen mit hohem Risiko für eine Erkrankung bzw. für bereits erkrankte Typ-2-Diabetiker.
    Unverzichtbar sind eine verbindliche Lebensmittelampel (wie der Nutri-Score) und die Zuckerreduktion in Lebensmitteln und Softgetränken. Dies gilt insbe­sondere für Babynahrung und für die Versorgungsangebote in den Kitas und an den Schulen.
    Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagnen zur Entstehung von Adipositas, Herz-Kreis­lauferkrankungen sowie Diabetes sind unerlässlich. Sie erhöhen die Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung und wirken einem ganzen Bündel sogenannter Zivilisationskrankheiten entgegen.
    Wir fordern Werbeverbote für überzuckerte Lebensmittel und Softdrinks, um der Dimension des Problems sowie der gesellschafts- und gesundheitspolitischen Verantwortung gerecht zu werden.

   5. Digitalisierung

    Es ist zu begrüßen, dass künftig auch digitale Gesundheitsanwendungen und telemedizinische Leistungen Teil der DMP werden sollen.
    Aus Patientensicht ist es aber nicht hinnehmbar, dass die Digitalisierung des Versorgungs­geschehens dazu führt, dass die Daten der Versicherten in die Hände von Medizinprodukte­herstellern, insbesondere international agierender Konzerne, fallen. Die Anonymisierung der Daten bei der Weiterverarbeitung bzw. Auswertung ist unverzichtbar. Das gilt insbesondere für alle zukünftig geplanten „Gesundheits-Apps auf Rezept“.
    Die DMP müssen daher als nationale Datenplattform aufgebaut werden, so dass die Behandlungsdaten auf dieser Plattform sicher und strukturiert zusammen­getragen werden können und die Basis für ein Diabetesregister bilden. Nur so wird sich in Zukunft auch eine adäquate Datennutzung zur Versorgungs­forschung realisieren lassen.

   6. Inklusion in KiTa und Schule

    Wir fordern, das bestehende Recht von Kindern mit Typ-1-Diabetes auf unein­geschränkte Teilhabe an Bildung umzusetzen.
    Es kann nicht sein, dass die kognitive Entwicklung von Kindern mit Diabetes negativ beeinflusst wird, weil es Kindertagesstätten und Schulen gibt, in denen Kindern mit schlechter Stoff­wechsel­lage die nötige Therapieunterstützung vorenthalten wird.
    Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) benötigt schnellstmöglich ergänzende Umsetzungs-Vorschriften, damit die Unterstützung von Kindern mit Typ-1-Diabetes eindeutig und einheitlich in Kindertagesstätten und Schulen geregelt wird – trotz der Hoheit der Länder in diesem Bereich.
    Jede Kindertagesstätte und jede Schule benötigt geschultes Personal und Integrationshilfen, um Kinder mit Typ-1-Diabetes bei Bedarf unterstützen zu können – wie es in anderen Ländern der EU bereits der Fall ist. Auch Lehrkräfte und Erzieherinnen und Erzieher müssen geschult werden, um Situationen richtig einschätzen zu können. Die Finanzierung dieser Schulungen muss sichergestellt sein.

Letzte Aktualisierung am 22.12.2021

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